„Der französische Historiker und Anthropologe Michel de Certeau hat den Ausgangspunkt historischer Forschung einmal mit einer Episode aus Robinson Crusoe zu veranschaulichen versucht: So wie dieser auf seiner menschenleer geglaubten Insel plötzlich auf eine rätselhafte Fußspur im Sand gestoßen sei, suchten Historikerinnen und Historiker am Strand der Gegenwart nach den Abdrücken und Spuren der Vergangenheit. Was im historischen Fachjargon gewöhnlich als „Quellen“ bezeichnet werde, sei letztlich nichts anderes als eine solche Spur aus vergangenen Zeiten, ein bloßes Überbleibsel, das aus sich heraus bedeutungslos bleibe, wenn es nicht zusammen mit anderen Spuren als eine Fährte gedeutet werde, die mal mehr, mal weniger sichtbar sei, aber möglicherweise doch weit in die Vergangenheit zurückreiche.“ (zitiert nach: Große Kracht, Klaus: Die zankende Zunft, Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2011, S. 7.).
Warum sich mit der Vergangenheit beschäftigen, wenn doch schon die Gegenwart eine unüberschaubare Fülle an Informationen bietet? Ja, genau deswegen! Vieles lässt sich besser verstehen, einordnen und beurteilen, wenn die Ursachen für gegenwärtige Entwicklungen bekannt sind. Warum war der 17. Juni ehemals der deutsche Nationalfeiertag? Welche Gründe sprachen dagegen, den 9. November – den Fall der Berliner Mauer – als deutschen Nationalfeiertag festzulegen? War die Arabellion eine Revolution? Ja! Nein! Welche Relevanz ergibt sich aus der Beantwortung dieser Frage? Auf dem 51. Historikertag hat der jetzige Bundespräsident Frank Walter Steinmeier den Westfälischen Frieden als Folie nutzbar gemacht, um Handlungsspielräume für die Lösung des Syrienkonflikts ausloten zu können. Konkreter!
Aktuelle Entwicklungen, wie in der Türkei, Polen, Ungarn, in den Beziehungen zwischen den USA, Russland und Deutschland oder die Frage, warum Mesut Özil aus der deutschen Nationalmannschaft zurückgetreten ist, also die Frage, was die deutsche Nation ausmacht, können nur verstanden, nachvollzogen und nutzbar gemacht werden, wenn deren Entstehungsgeschichte untersucht wird. Gegenwärtige Risiken können abgeschätzt werden, um daraus angemessene Schlussfolgerungen und Handlungsmöglichkeiten aus der Vergangenheit erschließen zu können. Geschichte ist das Gedächtnis der Menschheit: Ein Mensch ohne Erinnerung müsste jeden Tag alles neu lernen, könnte auf kein Wissen zurückgreifen, müsste „Fehler“ wiederholen, hätte keine Richtlinie, um Orientierung für das eigene Handeln zu finden.
Geschichte schult die Denkfähigkeit. Sie lässt sich nur konstruieren. Sie ist abstrakt. Nur durch Quellen kann die Vergangenheit re-konstruiert werden. Geschichte ermöglicht die Entwicklung zu selbstständig denkenden und kritikfähigen Menschen, die sich ihrer Verantwortung für sich persönlich und für die Gesellschaft stellen – in einer sich ständig wandelnden Welt.
Hans Mocznay, Das Hambacher Fest am 27. Mai 1832.
Quelle: Deutsches Historisches Museum